Macht und Ohnmacht
Erik liebt Katzen. Er hat zuhause eine Katze, die ihm sehr viel bedeutet. Er hat große Sehnsucht nach Nähe und Ruhe und würde am liebsten stundenlang kuscheln, sich ausruhen.
Als wir zum ersten Mal mit Merlin in seinem Stationszimmer waren, war Merlin neugierig und etwas aufgeregt und wollte nicht so recht ruhig bei ihm bleiben, sondern die Gegend erkunden. Erik war anfangs enttäuscht und wiederholte zunächst immer wieder: «Merlin soll bei mir sein.» Wir haben Merlin ab und zu geholt und dann kurz bei ihm gehalten, aber nie gezwungen.
Man muss wissen, dass Erik als «schwierig» bezeichnet wird, weil er Wutausbrüche und seinen eigenen Kopf hat. Ein Ziel zum Verhalten von Erik ist: Einhalten von Regeln, Akzeptieren von Grenzen, Frustrationen ertragen üben. Ich begleitete Merlins Verhalten also mit Kommentaren, sagte ihm, wie neugierig der Kater sei, er müsse alles erkunden und es falle ihm heute schwer, auf dem Bett zu bleiben. Erik lag da mit Frida und fing bald an, über Willen und Eigenständigkeit zu sprechen. Ich habe das Thema nicht so abgehoben, sondern bin bei den aktuellen Handlungen des Tieres geblieben.
Erik: «Wenn ich wo neu bin, will ich auch rumschauen. Jeder hat eben so seine Interessen. Ich will zwar was anderes, aber mir ist eigentlich am liebsten, dass er so ist, wie er sein will. Wie die Natur ihn gemacht hat.» So ging es dann weiter über Natur und was wir von den Tieren verlangen und für welchen Preis sie uns was schenken und wo unsere Verantwortung dabei liegt usw. Ich muss sagen, dass ich immer wieder erstaunt bin über das viele Sachwissen, aber auch das Einfühlungsvermögen von diesem «schwierigen» Kind.
Man fragt sich vielleicht, was das nun für seine Therapie bringe und was das mit Tieren zu tun habe: Es ist wieder der Modellcharakter der Situationen und der Beziehungen. Und natürlich merkt Erik, dass ich ihm zuhöre und ihn in seinen Gedanken ernst nehme. Die Entspanntheit der Situation unter Anwesenheit der Tiere erlaubt uns, ganz von seinen Verhaltensproblemen gelöst die Themen Willen und Macht und Ohnmacht, Enttäuschungen und Frustrationen anzusprechen. Wenn nur ein bisschen von dem in der Erinnerung übrig bleibt, ist das schon viel. Beim nächtsten Wutanfall würde ich ihn an Merlins Verhalten und seine eigenen zurückgesteckten Bedürfnisse erinnern...
Gegen Ende der Stunde dann wurde Erik aktiv und fing an, im ganzen Zimmer auf den Betten herum zu klettern, Merlin auf dem Boden zu kontaktieren und mit ihm zu spielen. Er hatte also das eine gegen ein anderes Bedürfnis ausgetauscht. Er übte damit natürlich Motorik, machte Balanceübungen und trainierte sich, vor allem aber hatte er SPASS.
(Erik befindet sich nach einem Unfall mit schwerem Schädel-Hirn-Trauma in der Rehabilitation)